Liebe Schwestern und Brüder,
als Leitfaden durch die heiligen drei Tage dient mir in diesem Jahr das Gefühl der Angst. Ängste beherrschen unser Leben und unsere Gesellschaft. Die Angst vor der Klimakatastrophe führt zu gesellschaftlichen Spannungen. Die Angst vor einem Krieg, der sich von der Ukraine über ganz Europa oder die Welt ausbreitet, versetzt uns in Unruhe. Teuerung und Inflation machen vielen Menschen Angst, weil sie an den Rand ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit kommen.
Das Gefühl der Angst ist auch in den Evangelien der heiligen drei Tage dauernd präsent. Angst begegnet uns dabei in vielen einzelnen Ängsten, die so vielfältig sind wie das Leben selbst. Heute am Gründonnerstag möchte ich drei Formen der Angst mit Ihnen meditieren: die Angst vor zu viel Nähe, die Angst, sich füreinander einzusetzen, und die Angst vor dem „Allein-gelassen-werden“.
Die Angst vor zu viel Nähe
In menschlichen Beziehungen spielt das Verhältnis von Nähe und Distanz eine wichtige Rolle. Wie viel Distanz brauche ich? Wie viel Nähe kann ich zulassen und brauche ich? Das rechte Verhältnis von Nähe und Distanz zu finden, bleibt eine lebenslange Herausforderung. Das wird auch im Abendmahlssaal deutlich. Als Jesus den Jüngern die Füße waschen will, wehrt Petrus dieses Ansinnen brüsk ab. „Niemals Herr, sollst du mir die Füße waschen!“ Aber Jesus besteht darauf, auch Petrus die Füße zu waschen.
Petrus hat Angst vor zu viel Nähe. Als es im Abendmahlssaal zum ersten Mal wirklich persönlich wird, regt sich bei ihm Widerstand. Er fürchtet diese Art der Zuwendung und der Nähe. Sie überfordert ihn. Er hat das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren und nicht zu wissen, was auf ihn zukommt. Typisch für Menschen, die zu viel Nähe fürchten, ist dieses Vermeidungsverhalten. Sie machen immer schnell einen Rückzieher, versuchen auszuweichen, wollen sich nicht festlegen und sind sich nicht sicher, was sie eigentlich wünschen.
Petrus nimmt zwar seinen inneren Widerstand wahr, aber zugleich ist er unfähig, darüber zu reden. Das wäre ja auch ein Zeichen von Schwäche und ein Eingeständnis, dass er momentan nicht so kann, wie von ihm erwartet wird. Weil er sich selbst nicht fühlt, weiß er auch mit seinen Gefühlen nicht umzugehen.
Immerhin: Petrus spürt instinktiv, dass diese Fußwaschung mehr bedeutet als nur Füße zu waschen. Jesus offenbart den Jüngern sein innerstes Geheimnis. Er macht sie aus Knechten zu seinen Freunden, wie er in den Abschiedsreden ausführt. Freunde werden sie dadurch, dass Jesus keine Geheimnisse mehr vor ihnen hat, sondern ihnen alles mitteilt. In der Fußwaschung gibt er sich als Diener aller zu erkennen.
Gerade dieses „Einander-alles-Mitteilen“ ist es, vor dem Petrus zurückschreckt. Seine übertriebene Bitte, auch die Hände und das Haupt gewaschen zu bekommen, zeigt, dass er nicht wirklich verstanden hat, worum es geht. Es ist nicht wichtig, äußerlich ganz gewaschen zu werden. Wichtig ist, im Inneren ergriffen zu werden, gerade da ergriffen zu werden, wo Petrus sich verschließt.
Die Reaktion des Petrus hält uns den Spiegel vor. Denn Jesus will auch uns heute Nacht sein Lebensgeheimnis mitteilen. Lassen wir ihn an uns heran? Haben wir Angst vor zu großer Verbindlichkeit? Haben wir Angst, ihm auch unser Herz zu öffnen? Haben wir Angst, vor allzu großer Nähe zum Herrn, Angst davor, uns ihm mitzuteilen?
Die Angst, sich füreinander einzusetzen
„Begreift ihr, was ich an euch getan habe?“ fragt Jesus nach der Fußwaschung. Eine berechtigte Frage. Denn die Fußwaschung und der Sklavendienst Jesu verlangen, ihm hierin nachzufolgen. Aber die Jünger haben Angst, es ihm gleichzutun. Sie haben Jesus nicht verstanden, seine Geste nicht begriffen.
Die Angst, sich füreinander einzusetzen, ist uns nicht fremd. Denn sich füreinander einsetzen, bedeutet, einen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Einen Vertrauensvorschuss in die Menschen, von denen wir erwarten, dass sie es uns danken und dass sie zu schätzen wissen, was wir tun. Einen Vertrauensvorschuss aber auch in Gott, von dem wir ebenfalls erwarten, dass sich der Dienst an den anderen für uns auszahlt. Wer aber nur auf den möglichen Lohn schaut, der ist noch nicht frei. Der kennt nur die menschlichen Maßstäbe von Gabe und Gegengabe.
In der Bergpredigt hatte Jesus deutlich darauf hingewiesen, dass den Jünger auszeichnet, an Gott Maß zu nehmen und im Blick auf Gott in Vorleistung zu treten. „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“ (Mt 5,45-48) Und wenn ihr nur denen die Füße wascht, die auch euch die Füße waschen, müsste man hinzufügen, welchen Lohn wollt ihr dafür erwarten?
Jesus dient nicht als Knecht, der auf den Lohn schielt. Er dient als einer, der sich von Gott geliebt weiß. Aus diesem Schatz im Himmel lebt er. Aus diesem Schatz gibt er, ohne auf Erstattung zu hoffen. Denn er weiß, am Ende zahlt sich nur das aus, was man ohne Berechnung verschenkt hat. Haben wir Angst davor, dem Herrn so zu dienen? Oder sind wir schon frei geworden wie er? Er, der sich ganz verschenkt in Leib und Blut, wünscht auch Jüngerinnen und Jünger, die sich verschenken an diese Welt. Sie sind nicht größer als ihr Meister, sondern versuchen täglich neu, sein Maß zu erreichen. Denn sein Maß der Liebe ist die Liebe ohne Maß.
Die Angst, allein gelassen zu werden
Nach dem Abendmahl geht Jesus hinaus zum Ölberg mit seinen Jüngern. An diesem Abend wird es einsam um ihn. Er weiß, dass der Verräter kommt, um ihn seinen Feinden auszuliefern. Deshalb bittet er seine Jünger um ihr Gebet. „Bleibet hier und wachet mit mir.“ Aber die Jünger schlafen ein. Sie können nicht wach bleiben. Es ist eine bleierne Müdigkeit, die sich auf sie legt. Ein Gemisch aus Resignation und Überdruss, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Die Angst, allein gelassen zu werden, überkommt Jesus. Er ringt in dieser Nacht mit seinem Schicksal. Soll er versuchen zu fliehen? Soll er sich der Situation stellen? Soll er Widerstand leisten? Oder sich den Verfolgern ausliefern? Quälende Fragen, quälendes Überlegen – allein.
Wir kennen diese Situationen, in denen wir eigentlich den Zuspruch, die Unterstützung und die Anteilnahme anderer bräuchten, die sich uns aber entziehen. Aus Angst, in etwas mithineingezogen zu werden, was sie nicht wollen. Aus der Befürchtung, in Haftung genommen zu werden, für etwas, für das sie jede Verantwortung ablehnen. Aus dem Interesse, sich nicht noch zusätzlichen Ärger aufzuhalsen. Erst in der Not zeigt sich, auf wen man sich wirklich verlassen kann und auf wen nicht. Ein bitterer Lernprozess.
Jesus geht allein in diese letzte Nacht seines Lebens. Und wir kennen das. Die einsamen Nächte im Krankenhaus. Die einsamen Nächte auch in einer Partnerschaft, in der man sich eigentlich ganz nah ist, aber sich unendlich weit voneinander entfernt fühlt. Die einsamen Nächte im Gefängnis. Die einsamen Nächte vor wichtigen Entscheidungen, die uns niemand abnehmen kann und die nur wir treffen können. Die einsamen Nächte am Sterbebett, wenn wir dem Tod eines lieben Menschen ins Auge sehen. Die einsamen Nächte auf der Straße, ohne Obdach. Die einsamen Nächte im Krieg. Angst vor der Einsamkeit.
Jesus sucht in dieser einsamsten Nacht im Gebet Zuflucht bei Gott, seinem Vater. Jesus lernt, sein Leben langsam in die Hände Gottes zu legen. Nur noch Gott allein ist sein Halt, wo Menschen ihn im Stich lassen. Sein einsames Wachen in der Nacht macht ihn zum Begleiter all der Menschen, die in den einsamen Nächten ihres Lebens bangen.
Er fordert uns auf, heute Nacht mit ihm zu wachen und zu beten. Mit ihm sollen wir einen Blick haben für die, die vor Angst vergehen, weil sie niemanden haben, der bei ihnen ist und sie an der Hand nimmt. Lassen wir Jesus heute Nacht nicht allein. Lassen wir die Schwestern und Brüder des Herrn nicht allein, die Angst haben, von Gott und der Welt vergessen zu werden.