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Dokumentation

„Menschsein ohne Leiden ist eine Illusion“

Predigt von Bischof Dr. Franz Jung am Karfreitag, 29. März 2024, im Würzburger Kiliansdom

Geduld im Leiden

Als Leitfaden durch die Heiligen drei Tage dient uns in diesem Jahr die innere Haltung der Geduld. Papst Gregor der Große nannte die Geduld einst „Wurzel und Hüterin aller Tugenden“. Denn unser Leben ist dem beständigen Wandel unterworfen. Wir sind nicht einfach, sondern wir werden. Die Veränderungen unseres Lebens vollziehen sich in der Zeit und benötigen Zeit. Damit fordern sie uns auch Geduld ab. Denn vieles geht nicht so schnell, wie wir es gerne hätten.

Gestern, am Gründonnerstag, haben wir nachgedacht über die Geduld im Umgang mit unseren Feinden und Widersachern. Am heutigen Karfreitag geht es um die Geduld in den Zeiten der Krankheit und des Leidens.

Ungeduld angesichts von Krankheit und Leid

Geduld bei Krankheit? Davon kann heutzutage keine Rede sein. Denn Krankheiten werden in der Regel nur als unliebsame Störungen wahrgenommen. Gerade bei kleineren Wehwehchen erwartet man sofort die Verschreibung eines Medikaments. Damit soll der Prozess der Genesung beschleunigt und abgekürzt werden. Denn Krankheit beeinträchtigt unsere Lebensqualität und beschneidet uns in unserer Freiheit.

Schwere Erkrankungen als Geduldsproben

Anders sieht es aus bei schweren Erkrankungen. Sie werden zur ernsthaften Geduldsprobe. Auf lateinisch heißt Geduld „Patientia“. Und der, der sich in Geduld übt, ist dann der „Patient“ – im Idealfall zumindest.

Ungeduld als dauernde Begleiterin

Denn natürlich bleibt auch dann noch die Ungeduld unsere dauernde Begleiterin. Warten auf einen Arzttermin. Warten auf die Laborergebnisse und damit die Diagnose. Warten auf einen Termin für einen Eingriff. Warten auf die Besserung. Warten auf einen Reha-Platz. Warten auf den Abschluss der Genesung.

Es braucht ein großes Maß an Geduld mit all der Warterei.

Erkrankung wird zur Passion

Je länger sich die Prozedur der Genesung hinzieht, umso mehr zeigen sich Parallelen mit der Passion Jesu.

Einsamkeit

Man spürt eine zunehmende Einsamkeit. Was jetzt auf mich zukommt, kann trotz der Ärzte und des Pflegepersonals im Letzten nur von mir allein bewältigt werden. Das kann mir niemand abnehmen. Als kranker Mensch wird man einsam.

Ohnmacht

Zu dieser Einsamkeit gesellt sich das Gefühl der Ohnmacht. Zunehmend machen wir die Erfahrung, dass über uns gesprochen wird, dass wir zu einem Fall werden. Ich fühle mich ausgeliefert und hilflos. Mein Geschick liegt plötzlich in fremden Händen. Überdies zeigt sich jetzt, wer wirklich Freund ist und wer sich plötzlich verabschiedet, weil ich aufgrund der Erkrankung uninteressant geworden bin und niemandem mehr zum eigenen Fortkommen helfen kann.

Entblößung all dessen, worauf ich mich bislang verlassen hatte

Neben dem Gefühl der Einsamkeit und der Ohnmacht spüre ich, wie mir im Laufe der Zeit alles genommen wird, worauf ich mich bislang verlassen hatte und was meine Persönlichkeit ausmachte. Alles, was ich besitze, verliert plötzlich an Bedeutung. Mein Lebensradius schränkt sich radikal ein. Am Ende reicht ein Zimmer im Krankenhaus.

Die Fragen nach dem Warum

Zu allem Überfluss beginnen mich nun Fragen zu quälen: Warum ich? Warum gerade jetzt? Was habe ich falsch gemacht? Wie soll ich diese Krankheit deuten? Ist sie gar eine Strafe? Wir führen einen inneren Prozess, bei dem wir Ankläger und Angeklagte zugleich sind, ohne befriedigende Antworten zu finden.

Geduld im Leiden? Eine harte Geduldsprobe, ja. Wirkliche Geduld, nein.

Christus lernt selbst, mitzufühlen mit den Leidenden

Auch wenn man aus verständlichen Gründen so schnell wie möglich die Phasen der Krankheit hinter sich lassen möchte, so lernen wir mit Christus, Krankheit und Leid anzunehmen als Teil unserer menschlichen Existenz. Genau deshalb sucht uns der Gottessohn in dieser Lebenslage auf. In der Lesung aus dem Hebräerbrief hieß es eben so eindrücklich (Hebr 5,8-9): „Obwohl er der Sohn war, hat er durch das, was er gelitten hat, den Gehorsam gelernt.“

Der Gottessohn steht nicht über den Dingen. Er lernt den Gehorsam im Leiden. Er lernt im Leiden, was es heißt, „nicht mein, sondern dein Wille geschehe“. Im Mitleiden erfüllt er den Willen des Vaters, der in Christus den verlorenen Menschen nachgeht, um ihre gefühlte Gottverlassenheit zu teilen. Er steigt mit uns Menschen hinab in die Hölle von Krankheit, Leid und Tod.

Deshalb haben wir in ihm einen Hohepriester, der mitfühlen kann mit unserer Schwäche. Wir haben in ihm einen Mittler, der am eigenen Leib erfahren hat, was Menschen durchmachen in Zeiten von Krankheit und Not. Im Blick auf den gekreuzigten Herrn können auch wir unsere Leiden annehmen.

Christus lehrt uns Geduld im Leiden

Dieser Christus lehrt uns Geduld im Leiden. Mit ihm lernen wir, dass zur Fülle des Lebens auch die Zeiten der Schwäche und der Krankheit gehören, so bitter sie uns auch ankommen mögen.

Mit Christus lernen wir, dass man Heilungsprozesse im Leben nicht abkürzen und nicht beschleunigen kann. Nur, was wir mit ihm ganz annehmen lernen, kann auch ganz erlöst werden. Auch unsere persönlichen Karfreitage und unsere persönlichen Leidensgeschichten brauchen Zeit, die wir uns einräumen müssen, ohne uns zu früh eine Normalität vorzugaukeln, die sich vielleicht so nie mehr einstellen wird.

Christus lehrt uns, sich der todkranken Menschen anzunehmen

Mit Christus lernen wir, dass auch der kranke Mensch eine Würde hat, die ihm niemand nehmen kann. Eine Gesellschaft, die todkranke Menschen abschreibt, oder ihnen gar den assistierten Suizid als Ausweg aus ihrer Situation anbietet, wird unmenschlich.

Wenn sich unheilbar kranke und damit zutiefst verletzliche Menschen nicht mehr der gesellschaftlichen Solidarität sicher sein können, wenn „austherapierte Patienten“ nur noch als Belastung für das Gesundheitssystem und als Kostenfaktor wahrgenommen werden, laufen wir insgesamt Gefahr, unsere Menschlichkeit zu verspielen.

Denn der Karfreitag lehrt uns, dass Menschsein ohne Leiden eine Illusion ist. Gerade der Blick auf das Kreuz wird zur Anklage und entlarvt die Herzlosigkeit eines Denkens, das keine Geduld mehr aufbringt mit den sogenannten hoffnungslosen Fällen.

Die Ungeduld angesichts des Leidens aber führt zur Entwertung und Abschreibung gerade derjenigen, für die Christus gestorben ist.

Weil Christus geduldig unsere Leiden ertrug, sollen auch wir Geduld haben mit denen, die unsere Zeit und Zuwendung am Nötigsten brauchen.

Ich schließe auch heute wieder mit dem kleinen, mir so lieben Gebet der Heiligen Teresa von Avila, das uns durch diese Tage begleitet:

Nichts soll dich ängstigen, nichts dich erschrecken, alles vergeht.

Gott bleibt derselbe. Geduld erlangt alles.

Wer Gott hat, dem fehlt nichts. Gott nur genügt.

Mögen uns Krankheiten und Leiden nicht ängstigen und nicht erschrecken. Der Gott, der am Kreuz mit uns gelitten hat, bleibt derselbe. Geduld erlangt alles, denn durch sie sind wir diesem Christus im Innersten verbunden. Er allein genügt. Amen.