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Dokumentation

Martinus ist kein Nationalheiliger

Predigt von Bischof Dr. Franz Jung am Montag, 11. November, in der Erzabtei Pannonhalma (Ungarn)

Als der heilige Martinus am 8. November im Jahr 397 in Candes an der Loire starb, versammelten sich die Abgesandten von Poitiers und Tours an seinem Sterbebett. Im ersten Buch seiner „Historia Francorum“ (HF I.48) berichtet Gregor von Tours anschaulich, wie die Delegationen beider Städte ihren Anspruch auf den Leichnam des Martinus geltend machten.

Die Einwohner von Poitiers sagten: „Martinus gehört uns! Denn bei uns war er Mönch und später Abt. Wir haben ihn euch, den Bewohnern von Tours, nur geliehen und fordern ihn nun zurück! Euch muss es reichen, dass ihr ihn als Bischof gehabt habt, dass ihr seine Predigten hören durftet und von seinen Wundern profitiert habt. Wir haben jetzt ein Recht auf seinen Leichnam!“

Darauf antworteten die Einwohner von Tours: „Ihr behauptet, wir hätten schon genug von Martinus gehabt? Mitnichten! Bei euch hat er zu Lebzeiten mehr Wunder gewirkt als bei uns. So muss er uns jetzt noch die Wunder liefern, die er uns schuldig geblieben ist. Außerdem ist es seit ältesten Zeit Brauch, dass ein Bischof dort beigesetzt wird, wo er geweiht wurde!“

Wie ging der Kampf aus? Ermüdet von den Streitereien schliefen die Leute von Poitiers nachts ein. Die Abgesandten von Tours nutzten diese günstige Gelegenheit. Sie nahmen den Leichnam des Martinus, warfen ihn über die Stadtmauer und brachten ihn im Schutz der Dunkelheit auf der Loire per Schiff nach Tours. Dort wurde ihnen ein glänzender Empfang bereitet. Man feierte sie wie Helden. Denn die Reliquien eines schon zu Lebzeiten als heilig verehrten Mannes waren bares Geld. Reliquien bedeuteten Wunder. Wunder bedeuteten Wallfahrten. Wallfahrten bedeuteten Aufschwung der Gastronomie und des Devotionalienhandels.

Kurz: Das Ganze versprach, ein sehr einträgliches Geschäft zu werden. Tours hatte mit dem Leichnam des heiligen Martin einen nie versiegenden Strom der Gnaden - und der finanziellen Einnahmen…

Wem gehört der heilige Martin?

Auch wenn man aus mittelalterlicher Sicht gut nachvollziehen kann, warum die beiden Städte so erbittert um den Leichnam des heiligen Martinus rangen, mutet dieses Geschehen aus heutiger Sicht kurios an. Denn Martinus steht wie kein anderer für die Praxis des Teilens und dafür, anderen selbstlos zu geben. Und genau diesen Martinus versuchte man an sich zu reißen und ihn als Einnahmequelle zu gebrauchen. Angesichts eines solchen Vorgangs erhebt sich für uns heute umso dringender die Frage: Wem gehört Martinus?

Der heilige Martinus gehört Gott – und wer gehört zu Martinus?

Die erste Antwort lautet ganz einfach: Martinus gehört Gott. Denn sein Lebensweg ist ein Weg immer tieferer Gottverbundenheit. Das zeigen eindrücklich die Stationen seiner Biographie: Soldat, Katechumene, Täufling, Exorzist, Einsiedler, Mönch, Bischof. Martinus bleibt nicht stehen. Er geht mit innerer Konsequenz seinen geistlichen Weg. Dieser Weg bedeutet für ihn, immer größere Verantwortung für die Kirche und in der Kirche zu übernehmen. Er will ganz Gott gehören und Gott nimmt ihn immer weiter in seinen Dienst.

Weil Martinus ganz Gott gehört, stellt sich die Frage jetzt umgekehrt. Sie lautet nicht mehr: „Wem gehört Martinus?“ Sondern jetzt muss umgekehrt gefragt werden:

„Wer gehört zu Martinus?“

Drei Antworten auf diese Frage möchte ich Ihnen heute anbieten.

Zu Martinus gehört, wer für die Armen kämpft

Die Ikonographie zeigt Martinus immer als römischen Offizier, der auf einem Pferd sitzt. Vom Pferd aus schaut er herab auf den Bettler. Zur Seite gewandt, teilt er mit seinem Schwert den kostbaren Offiziersmantel, um die andere Hälfte dem frierenden Bettler herab zu reichen.

Vom Kriegshelden wandelt sich Martinus zum Kämpfer für die Armen. Sein Schwert benutzt er nicht mehr dazu, seine Feinde zu töten. Sein Schwert wird zur Waffe im Kampf für mehr Gerechtigkeit. Denn das hat Martinus erkannt: nur Gerechtigkeit schafft auf Dauer Frieden. Nur ein Ausgleich zwischen denen oben und denen unten, zwischen den Reichen und den Armen, zwischen denen, die auf dem hohen Ross sitzen, und denen, die im Staub kriechen, wird helfen, ein solidarisches Miteinander in der Gesellschaft herbeizuführen.

Insofern gefallen mir auch besonders gut die Darstellungen in der Kunst, die Martinus nicht hoch zu Ross zeigen, sondern einen Martinus, der vom Pferd abgestiegen ist. Er schaut den Bettler auf „Augenhöhe“ an. Er gibt nicht mehr von oben herab, sondern er teilt brüderlich mit ihm. Die Herausforderung der Zukunft wird sein, die Welt aus der Sicht der Armen zu betrachten. Genau das meint die sogenannte „Option für die Armen“. Denn erst der, der mit den Augen der Bedürftigen die Welt anschaut, erkennt, wie groß die Aufgabe ist, die noch vor uns liegt. Genau das hat Jesus Christus getan. Gott wird Mensch, um mit Menschenaugen das Elend zu sehen und konsequent für die Armen einzutreten. Martinus ist seinem Herrn treu nachgefolgt.

Zu Martinus gehört, wer beim Anblick des halben Mantels erschrickt

Lächerlich soll Martinus ausgesehen haben mit seinem halben Mantel. Die Leute hätten ihn ausgelacht, wird berichtet. Aber der halbe Mantel ist alles andere als lächerlich. Ich meine, er ist ein gefährliches Erinnerungsstück:

Denn der geteilte Mantel erinnert uns daran, dass die Welt noch immer geteilt ist in die, die haben, und die, die nicht haben.

Der geteilte Mantel erinnert daran, dass die eine Hälfte der Menschheit noch fehlt und dass ohne diese Hälfte nichts ganz und heil und gut werden kann.

Der geteilte Mantel erinnert schließlich daran, dass Christus die eine Hälfte bei sich behält. Er erwartet von uns, dass wir unseren Teil dazu beitragen, dass die Nackten bekleidet werden.

Der Mantel des Martinus war einer der größten Schätze im Reich der Karolinger. Die sogenannte „Cappa Martini“ wurde nicht nur in der nach ihr benannten „Kapelle“ aufbewahrt und von den „Kapellanen“ behütet. In Kriegszeiten wurde diese kostbare Reliquie mitgeführt. Sie sollte das Heer vor den Feinden schützen und den Sieg in der Schlacht garantieren.

Vielleicht müssten auch wir den halben Mantel des Martinus mit uns führen. Gerade in Zeiten der Auseinandersetzung um den richtigen Weg der Kirche wäre er für uns eine kostbare Reliquie. Sie würde uns immer neu daran erinnern, dass die Kirche nicht Selbstzweck ist, sondern Sakrament des Heils für die Welt sein muss. Sie darf nicht nur um die eigenen Probleme kreisen. Erst in der Antwort auf die Not ihrer Zeit findet sie zu ihrer eigenen Sendung. Gott will keine „halben Sachen“, er fordert von uns mit Nachdruck seinen Pflichtanteil.

Zu Martinus gehört, wessen Barmherzigkeit keine Grenzen kennt

Viele Nationen können Martinus für sich beanspruchen, entsprechend den Etappen seines Lebensweges: Ungarn, Italiener, Deutsche und Franzosen. Der Martinusweg verbindet seit 2005 als Kulturweg des Europa-Rates genau diese Länder miteinander. Er ruft das gemeinsame Erbe in Erinnerung. So zeigt er, dass Gottes Barmherzigkeit keine Grenzen kennt und an den Grenzen nicht Halt machen darf. Auf seine Weise ist er in seinem Verlauf von Osten nach Westen eine „Balkanroute“.

Martinus ist also kein Nationalheiliger, sondern ein Heiliger, der die Nationen und Völker miteinander verbinden möchte. In seinem Namen geht es darum, die Barrieren abzubauen, die uns voneinander trennen. Mehr noch geht es darum, die Barrieren abzubauen, mit denen wir uns von fremder Not abschotten. Die Diskussionen darum, wie man mit Flüchtlingen angemessen umgeht, beschäftigt uns sehr. Zusehends erkennen wir, dass Europa das Problem nur in einer gemeinsamen Anstrengung meistern kann.

Insofern kann diese Herausforderung auch eine Chance sein, im Geist des heiligen Martinus zusammen zu wachsen, um im selben Geist gemeinsam zu helfen.

Nicht den toten, sondern den lebendigen Martinus besitzen

Wir haben unsere Überlegungen begonnen mit der Erinnerung an den Streit um den toten Martinus. Es geht aber nicht darum, den toten Martinus zu besitzen. Nur der heilige Martinus, der bei Gott lebt, wird unser Leben verändern. Sein Licht leuchtete vor den Menschen, die seine guten Taten sahen und den Vater im Himmel priesen (Mt 5,16).

Den lebenden Martinus müssen wir besitzen. Besser: der lebende Martinus muss von unseren Herzen Besitz ergreifen. Wenn wir dann die Nackten bekleiden, wird „unser Licht in der Finsternis hervorbrechen wie das Morgenrot“ (Jes 58,8), wie der Prophet Jesaja verheißen hat.

Zur Erinnerung daran, ziehen die Kinder mit ihren Lampions am Martinus-Tag nachts durch die Straßen. Nehmen wir uns an ihnen ein Beispiel, damit auch wir Söhne und Töchter des heiligen Martinus heißen dürfen. Denn wenn das Licht unserer guten Werke die Nacht dieser Welt erleuchtet, gehören wir wirklich zu ihm. Amen.