Liebe Schwestern und Brüder,
das Gefühl der Scham war uns Leitfaden für die Betrachtung der Evangelien in den Heiligen Drei Tagen. Am Gründonnerstag haben wir gesehen, wie Petrus sich schämt, die Füße gewaschen zu bekommen. Der Gottessohn hingegen schämt sich nicht, sich als Diener vor den Jüngern zu verneigen, und ihnen den Knechtsdienst der Fußwaschung zu erweisen.
Am Karfreitag haben wir die Passion Christi zu lesen versucht als eine Geschichte fortgesetzter Beschämung mit Todesfolge. Zugleich wurde deutlich, wie Jesus in dieser Beschämung nur deshalb bestehen kann, weil er sich von Gott, seinem Vater, gehalten weiß.
Heute, am Ostersonntag, stellt sich uns die Frage, wie man mit der Erfahrung der Beschämung im Leben umgehen kann. Die Begegnung Jesu mit Maria von Magdala soll uns dabei als Anschauungsbeispiel dienen. Der auferstandene Herr erweist sich als einfühlsamer Seelsorger, der Maria in behutsamer Weise hilft, den Weg ins Leben zurückzufinden. Schauen wir uns die einzelnen Schritte an, die Jesus mit Maria von Magdala geht.
Jesus, der Gärtner, wartet
Ein erster Punkt. Jesus wartet auf Maria von Magdala am Grab, die dort alleine zurückgelassen wurde und weint. Maria erkennt ihn nicht und meint es sei der Gärtner. Ja, Jesus ist ein Gärtner, ein Seelengärtner. Er ist gekommen, um eine Seele wieder zum Blühen zu bringen, auf der man herumgetrampelt hat. Wie jeder gute Gärtner kann Jesus warten. Im Warten eröffnet er den Raum der Begegnung. Im Warten signalisiert er, dass er Maria von Magdala wahrgenommen hat.
Das Wahrgenommen-Werden ist ein erster wichtiger Schritt, wenn es um die Bearbeitung von Beschämung geht. Das liebevolle Angeschaut-Werden zeigt Maria, dass es sie gibt. In der Beschämung möchte der Mensch sich am liebsten verstecken. Aber sie muss sich nicht verstecken. Es schaut sie voll Wohlwollen an, so dass sie in seiner Gegenwart überhaupt erst wieder sie selbst wird. Sie darf da sein. Wie sagt Hilde Domin in ihrem Gedicht „Es gibt dich“ so schön:
Es gibt dich / weil Augen dich wollen, / dich ansehen und sagen / dass es dich gibt.
Erst durch den wohlwollenden Blick des anderen empfängt sich der Mensch selbst und wird er selbst.
Jesus fragt nach ihrem Schmerz
Ein Zweites. Jesus fragt Maria nach ihrem Schmerz: „Frau, warum weinst du? Wen suchst du?“ Auf diese Frage hin, eröffnet sie Jesus ihre Not. Sie will diesen Jesus holen, den man weggebracht hat.
Nicht nur weggebracht, weil er nun nicht mehr im Grab liegt, sondern weggebracht schon viel früher. Weggebracht durch die Gefangennahme, die die Gemeinschaft mit Jesus zerstört hat. Weggebracht im Verhör und der Folter, bei der auch allen anderen die Hände gebunden waren und sie diesem Jesus nicht mehr beistehen konnten. Weggebracht, um sein Kreuz nach Golgotha hinaufzutragen. Auf diesem letzten Weg musste sie hilflos mit ansehen, wie dieser Jesus getötet wurde.
„Weggebracht“: In diesem kleinen Wort ist die ganze Beschämung Marias zusammengefasst – ihre Ohnmacht, ihre Hilflosigkeit, aber auch ihr Gefühl, versagt zu haben. Sie schämt sich, weil sie ihren Herrn seinem Schicksal preisgeben musste, ohne ihm weiter helfen zu können. Mit diesem „Weggebracht“ ist die Hilflosigkeit aller Menschen ins Wort gefasst, die einen lieben Menschen verlieren: weggebracht in die Klinik, weggebracht ins Heim, weggebracht in die Psychiatrie, weggebracht ins Gefängnis, weggebracht in den Krieg, weggebracht auf den Friedhof.
„Sag mir, wohin du ihn gelegt hast, dann will ich ihn holen“. Maria will ihn holen. Sie will irgendwie wiedergutmachen, was ihr zuvor nicht gelungen war. Sie will mit diesem Holen auch ein verlorenes Stück ihres Lebens wieder zurückgewinnen.
Jesus ruft Maria bei ihrem Namen
Ein Drittes. Jesus gibt dem Gespräch eine Wendung, indem er Maria nicht mehr „Frau“ nennt wie zu Beginn ihrer kleinen Unterredung. Sondern er ruft sie jetzt bei ihrem Namen. „Jesus sagte zu ihr: Maria!“ Aus der anonymen Trauernden wird ein Mensch mit einem Namen. Beschämung führt in die Selbstabwertung. Menschen haben nicht nur das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Sie bekommen den Eindruck, selbst falsch zu sein, als Person falsch zu sein.
Indem Jesus Maria mit ihrem Namen anruft, holt er sie aus dieser Selbstabwertung heraus. Du bist der unverwechselbare Mensch, der es wert ist, bei seinem Namen gerufen zu werden. Du bist Maria. Und Maria ist immer mehr und immer größer als alles Versagen und alle Beschämung. Maria geht nicht auf in der Schuld und in ihrem Gefühl, versagt zu haben. Du bist als Maria unendlich viel wert vor Gott, weil er dich in Christus bei deinem Namen ruft.
Jesus erweist sich als Meister
Ein Viertes. Maria wendet sich um. Ein wunderbares Wort. Sie wendet sich um, um ihrem Leben eine Wendung zu geben. Der Gärtner bringt die geschundene Seele ganz langsam wieder dazu, sich innerlich aufzurichten, um sich dem Licht entgegenzustrecken. Maria ahnt, dass dieser Gärtner Jesus sein muss. Sie ruft ihn an mit „Rabbuni“ und nennt ihn ihren Meister. Als Meister erweist sich Jesus dadurch, dass er Maria befähigen möchte, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Du bist nicht nur wer, du kannst auch was.
Dadurch unterscheidet sich Jesus von den falschen Meistern und Gurus dieser Welt, die alles darauf anlegen, Menschen in ihre Abhängigkeit zu bringen. Gerade das will Jesus nicht. Natürlich sagt er zu den Jüngern in den Abschiedsreden: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,5). Aber das ist so zu verstehen, dass durch den Halt in Jesus der Mensch frei wird, sich zu entwickeln. Der Halt Jesu gibt frei und macht frei und führt ins Leben. Die Beschämung zu durchbrechen heißt, sein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Jesus rät Maria, loszulassen
Ein Fünftes. Nachdem Maria im Gärtner Jesus erkannt hat, möchte sie ihn festhalten. Jesus aber fordert Maria auf, ihn loszulassen: „Halte mich nicht fest!“ Der Wunsch, Jesus festhalten zu wollen, rührt von der durchlittenen Ohnmacht, ihren Herrn nicht retten zu können. Das Festhalten-Wollen führt zu innerer Erstarrung wie es oft bei Beschämung zu beobachten ist. Es ist wie ein andauernder Haltereflex, der aber ins Leere greift, weil er sein Ziel verfehlt. Jesus macht Maria darauf aufmerksam, dass sie in diesem Reflex wie gelähmt ist. Maria soll sich neu erfahren. Sie soll spüren, was mit ihr geschieht. Erst wenn sie wahrnimmt, wie diese Zwangsvorstellung, festhalten zu müssen, sie selbst im Griff hat, erst dann kann sie sich innerlich lösen und langsam loslassen.
Wie sagte einmal jemand so treffend zu mir: Für meinen inneren Heilungsweg von der Beschämung zurück ins Leben war ein kleines Wort entscheidend. Es lautete: „Herz rein und Kopf raus!“ Herz rein – das heißt, hab wieder Mut, dein Herz zu spüren und zu spüren, wie sich der Schmerz anfühlt und die innere Verkrampfung, die du verdrängt hast. Aber wenn du dich wieder spürst und dein Herz wieder schlägt und der innere Krampf sich löst, dann kannst du den Kopf auch erheben. Du musst ihn nicht länger zwischen den Schultern einziehen, verschämt und schuldbewusst. Sondern du darfst erhobenen Hauptes deinen Weg gehen.
Das geht nicht auf einmal und auch nicht einfach auf Zuruf. Es ist ein längerer Prozess. Immer wieder neu muss die Ermutigung gehört werden, loslassen zu dürfen, um sich immer weiter zu lösen. Aber der Winter des Lebens mit dem Einfrieren der Gefühle geht zu Ende. Der Frühling ist da und neues Leben kann sich jetzt die Bahn brechen.
Jesus sendet Maria als erste Botin der Osterfreude
Ein Sechstes und Letztes. Der auferstandene Jesus erscheint Maria mit all seinen Wunden. Sie haben ihre todbringende Kraft verloren. Dennoch sind die Wundmale sichtbar. Sie werden zur Ausweiskarte, an der man Jesus erkennen kann als den Gekreuzigten und Auferstandenen. Jesus schämt sich dieser Wunden nicht. Er präsentiert sie nicht schamlos, aber er versteckt sie auch nicht. Der auferstandene Herr führt Maria den Weg zur gesunden Scham als der Hüterin der menschlichen Würde.
Im Blick auf Jesus darf Maria lernen, ihre Wunden anzunehmen. Sie gehören zu ihr. Sie sind und bleiben Teil ihrer Lebensgeschichte und ihrer Biographie. Deshalb muss Maria ihre Wunden nicht mehr verstecken und sie muss sich selbst nicht mehr verstecken. Es geht nicht darum, distanzlos mit seinen Verletzungsgeschichten hausieren zu gehen. Aber umgekehrt wäre es auch nicht hilfreich, die Verletzungen totzuschweigen. Die heilsame Scham als Hüterin der menschlichen Würde lehrt: Gerade durch meine Verwundungen bin ich unverwechselbar. Die Verwundungen sind schmerzhaft und sie tun weh. Aber sie können mir meine Würde nicht mehr rauben.
Maria empfindet angesichts ihrer Verletzungen nicht mehr totale Beschämung. Sie findet zurück zur Scham, einer Scham, die sorgsam mit den Wunden umgeht und die sie hütet wie etwas Wertvolles und Kostbares. Denn sie erinnern sie daran, dass wir alle verletzliche Menschen sind. Wir sind verwundbar. Aber diese Verwundbarkeit macht den Kern unserer Menschlichkeit aus. Diesen Kern gilt es sorgsam zu hüten. Aufgrund unserer Verwundbarkeit und aufgrund unserer Verwundungen werden wir zu mitfühlenden Menschen. Die heilsame Scham ist die Hüterin der Verwundbarkeit.
„Blickt auf zum Herrn, so wird euer Gesicht leuchten und ihr braucht nicht zu erröten“, betet der Psalmist (Ps 34,6). Ein wunderbares Bild für Ostern. Blickt auf zum auferstandenen Herrn mit seinen verklärten Wunden. Dann wird euer Gesicht leuchten und ihr braucht euch eurer Verletzungen nicht mehr zu schämen. Blickt auf zu ihm, dann wird die Osterfreude und das Licht der Osternacht euer Gesicht zum Leuchten bringen. Und wenn euer Gesicht so von innen her strahlt, wenn ihr nicht mehr von der Scham, sondern der Freude überflutet werdet, dann könnt ihr wie Maria von Magdala zu Botinnen und Boten der Osterfreude für andere werden.
Ich stelle mir vor, wie Maria auf ihrem Weg zu den Aposteln leise ihr Halleluja summt. Und ich denke mir, dass dieses leise Halleluja – auch wenn es bisweilen von Tränen und Schluchzen unterbrochen wird – im Kreis der Apostel anschwillt zum großen Lobgesang. Möge dieser befreiende Jubel an Ostern unsere Kirche erfüllen und weiterhallen in der ganzen Welt. Ja, der Herr ist wahrhaft auferstanden! Er hat unsere Beschämung gewandelt in neues Leben. Halleluja!