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Dokumentation

„Jedes Pathos war ihm fremd“

Predigt von Bischof Dr. Franz Jung beim Pontifikalrequiem für den verstorbenen Papst em. Benedikt XVI. am Neujahrstag, 1. Januar 2023, um 18.30 Uhr im Würzburger Kiliansdom

Wenn ich heute vor der ehrenvollen Aufgabe stehe, den verstorbenen Papst emeritus Benedikt XVI. zu würdigen, so möchte ich das vor allem tun unter der Berücksichtigung der Bezüge unseres verstorbenen Heiligen Vaters zum Bistum Würzburg.

Bischofsweihe Ratzingers durch den Würzburger Bischof Stangl

Mit dem Bistum Würzburg ist der Papa emeritus verbunden durch die Person des Würzburger Bischofs Dr. Josef Stangl. Denn als im Jahre 1977 der damalige Regensburger Theologieprofessor Joseph Ratzinger zum Erzbischof von München und Freising ernannt wurde, war überraschend der Vorsitzende der Freisinger Bischofskonferenz Julius Kardinal Döpfner verstorben. Als dienstältester bayerischer Bischof kam daher Bischof Stangl der provisorische Vorsitz der bayerischen Bischofskonferenz zu. In dieser Funktion erhielt er den Auftrag, Joseph Ratzinger am Pfingstsamstag, den 28. Mai 1977, im Liebfrauendom zu München zum neuen Erzbischof zu weihen.

Ziemlich genau 50 Jahre zuvor, am 16. April 1927, war übrigens Joseph Ratzinger vom gleichnamigen Kooperator Joseph Stangl früh morgens um 4 Uhr in der Kirche Sankt Oswald in Marktl am Inn getauft worden. Der 16. April war damals ein Karsamstag und damit der Vorabend von Ostern, was Josef Ratzinger immer als bedeutsames Datum seines Lebens erinnerlich war und Segen verhieß. Die Namensgleichheit des weihenden Bischofs mit dem Taufpfarrer Ratzingers ist eine ebenso überraschende wie schöne Fügung. Was am Vorabend von Ostern mit der Eingliederung in die Kirche begann, fand seine (vorläufige) Vollendung am Vorabend von Pfingsten mit dem Empfang der Bischofsweihe.

Die Festrede zur Vierhundertjahrfeier des Würzburger Priesterseminars

Der Kardinaldekan Joseph Ratzinger und langjährige Präfekt der römischen Glaubenskongregation hatte seine letzte offizielle Begegnung mit Würzburg bei der Vierhundertjahrfeier des Priesterseminars im Jahr 1989. Bei einer Festakademie am 6. Mai 1989 eröffnete er in der Neubaukirche das Jubiläum und sprach über die „Perspektiven der Priesterausbildung heute“

Auch wenn der Festvortrag sich zunächst dem Thema der Priesterausbildung widmet, benennt er die zentralen Themen der Theologie Joseph Ratzingers, die auch für das Denken des späteren Papstes Benedikt maßgeblich waren. Die Ausführungen kreisen als eine große Meditation über das Wort des ersten Petrusbriefes (Petr 2,15): „Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen, die Gott gefallen.“ Es kann hier nicht darum gehen, die Aussagen des gleichermaßen geistlichen wie tiefsinnigen Festvortrages wiederzugeben. Einige Gedanken jedoch seien herausgegriffen, die nichts von ihrer Dringlichkeit verloren haben.

In einem ersten Gedankengang legt der Kardinal dar, dass die Aufgabe des Seminars mehr sein muss als nur Ausbildung. Weil es nicht nur um die Vorbereitung auf einen Beruf geht, sondern weil eine Berufung vertieft werden soll, die ein Leben lang durchträgt und prägt, ist die vorrangige Aufgabe die „Bildung zum rechten Menschensein“ Diese Bildung ist in erster Linie Herzensbildung. Das zumindest lässt sich aus den Ausführungen des Festredners schließen. Denn zu den zu vermittelnden Eigenschaften eines angehenden Geistlichen gehören Gemeinschaftsfähigkeit, Großzügigkeit, Geduld, Vertrauen, Klugheit, Diskretion und Empathie sowie eine gute Portion Frustrationstoleranz. Das alles ist ohne beständige geistliche Einübung oder Askese nicht zu haben. Auf diese Weise werden die Steine unter der Führung des Heiligen Geistes so behauen, dass sie sich einfügen lassen in das Haus der Kirche. Wahre Menschlichkeit und gereiftes Menschsein sind demnach die Voraussetzungen dafür, der Kirche und in der Kirche zu dienen, denn die Gnade setzt die Natur voraus und vollendet sie.

Da der Bau des geistlichen Hauses Maß nehmen muss am göttlichen Plan, bedarf es nach Joseph Ratzinger der „Erziehung zur Wahrheit“. Denn die Wahrheit ist uns vorgegeben durch die Offenbarung in der Person Jesu Christi. Daher müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um die Wahrheit zu erkennen und sie zu verinnerlichen, so dass sie eine Gemeinschaft prägt. Wo diese geistliche Mitte fehlt und das Mühen um die Wahrheit vernachlässigt wird, sinkt das Seminar herab zum schlichten „Nebeneinander von Studentenzimmern“. Ohne eine verbindliche und bindende Wahrheit zerfällt eine Gemeinschaft in eine Ansammlung von Individualisten. Es ist diese Sorge, die Joseph Ratzinger Zeit seines Lebens umgetrieben hat, da er beobachtete, wie der Sinn für die Wahrheit des Evangeliums, die den Menschen unbedingt in die Pflicht nimmt, zusehends verdunstet und damit auch das Fundament brüchig wird für die Gemeinschaft innerhalb der Kirche.

Allerdings muss eine Theologie, die diesen Namen verdient, auch dazu in der Lage sein, die Wahrheit Jesu Christi zu vermitteln. Da aber diese Wahrheit nur innerhalb der Kirche zu finden ist, fordert der Präfekt der Glaubenskongregation die Kirchlichkeit der Theologie. Schwindet der Bezug zur Kirche, verliert auch die Theologie ihre innere Mitte. Folgerichtig wird Kirche nur noch ansichtig als soziologische Größe ohne geistliche Tiefendimension.

Wo sich die innere Gegenwart dieses Subjekts Kirche in den Seelen abschwächt, ist dieser Zerfallsprozess – die Auflösung des Kanons und die Auflösung der Theologie als Theologie in eine Reihe von kaum miteinander verbundenen Fächern – unausweichlich. Das ist die große Versuchung der Stunde, in der der Sinn für das Mysterium Kirche fast völlig erlischt und die Großkirche im Allgemeinen nur noch als eine Trägerorganisation angesehen wird, die religiöse Belange koordinieren kann, aber nicht selbst in die Religion eintritt, die sich allein in der ergriffenen Gemeinde abspielt.

Der Trend, den Ratzinger schon damals scharfsichtig analysierte, hat sich nicht abgeschwächt, sondern im Gegenteil noch verstärkt. Unter geänderten Voraussetzungen muss Kirche heute lernen, sich neben anderen gesellschaftlichen Institutionen zu bewähren und ihren Mehrwert unter Beweis zu stellen, der sich auch an einem anderen Geist ablesen lassen muss.

Ein weiterer Gedanke des Festredners lässt auch heute noch aufhorchen. „Es hat mich immer nachdenklich gemacht, dass in dem Gebet des römischen Messkanons, in dem die Priester für sich selbst bitten, als deren Titel das Wort ‚Sünder‘ erscheint: nobis quoque peccatoribus. Die amtliche Selbstbezeichnung der Kleriker im Angesicht Gottes weiß nichts mehr von Würde, sie kommt zum Kern: ‚Sündige Diener‘ sind wir.“ So der Kardinal. Er weiß, dass die ständige Nähe zum Heiligen die Gefahr birgt, abzustumpfen. Dann wird der heilige Dienst „alltäglich und gewöhnlich“. Dass der Priester und Geistliche immer auch Sünder ist und Sünder bleibt, ist eine Wahrheit, die durch das Bekanntwerden der Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs gerade durch geweihte Amtsträger und ausgerechnet im „Jahr des Priesters“ dramatisch an Aktualität gewonnen hat. Es handelt sich hier um mehr als nur eine fromme Demutsformel. Denn es geht um eine reale Bedrohung, nicht nur für minderjährige Schutzbefohlene, sondern um eine Bedrohung der Sendung der Kirche überhaupt. In seinen letzten Amts- und Lebensjahren ist der Papa emeritus mit dieser furchtbaren Realität konfrontiert worden, die seinen damaligen Überlegungen einen Ernst verliehen hat, vor dem er selbst im Nachhinein noch erschrocken sein mag. In der Haltung der Betroffenheit zu verharren, ist hier nicht länger gestattet. Diese Erkenntnis zwingt dazu, Kirche so zu gestalten, dass solche Verbrechen soweit als möglich verhindert werden.

Und ein letzter Punkt der damaligen Festrede erscheint mir bis heute bedenkenswert zu sein. Kardinal Ratzinger weist darauf hin, dass Kult immer etwas mit Kultur zu tun hat. Damit verweist er auf die Dimension des Schönen, die in seinem theologischen Denken eine wichtige Rolle spielt. Als musisch begabter Mensch war er nicht nur ein Meister der geschliffenen Rede, sondern auch ein Liebhaber der Musik. Liturgie, so wurde er nicht müde zu betonen, darf sich nicht in einem Ästhetizismus erschöpfen, sondern muss dem Menschen über die Erfahrung des Schönen den Blick für das Göttliche öffnen. Denn das Schöne verweist mit seinem Lehrmeister Bonaventura immer auf den Schönsten aller Menschen, auf Jesus Christus, der der unverstellte Widerschein der ewigen Liebe des Vaters ist und alle an sich ziehen möchte. Die Dimension des Schönen zurückzugewinnen in einer Welt, die Nützlichkeit und Funktionalität zum Prüfstein von allem macht, ist eine bleibende Anfrage an unser kirchliches Tun und eine Herausforderung, die noch lange nicht abgegolten ist.

Mit diesen wenigen Bemerkungen zu der gehaltvollen Festrede Ratzingers soll es hier sein Bewenden haben.

Das Zentrum für Augustinus-Forschung in Würzburg (ZAF) und der Augustinus-Kenner Joseph Ratzinger

Ein weiterer Bezugspunkt des Papa emeritus zu Würzburg verdient der Erwähnung. Seit seiner Dissertation über den heiligen Augustinus kreiste das Denken Joseph Ratzingers um die theologischen Einsichten des großen Kirchenvaters, von dessen ungebrochener Aktualität er immer überzeugt war. In seiner zweiten Augustinus-Katechese am 16. Januar 2008 bekannte er:

Wenn ich die Schriften des hl. Augustinus lese, habe ich nicht den Eindruck, dass es sich um einen Mann handelt, der vor mehr oder weniger 1600 Jahren gestorben ist, sondern ich spüre ihn wie einen Menschen von heute: einen Freund, einen Zeitgenossen, der zu mir spricht, der mit seinem frischen und aktuellen Glauben zu uns spricht. Im hl. Augustinus, der in seinen Schriften zu mir, zu uns spricht, sehen wir die bleibende Aktualität seines Glaubens; des Glaubens, der von Christus kommt, dem ewigen, fleischgewordenen Wort, Gottessohn und Menschensohn. Und wir können sehen, dass dieser Glaube nicht von gestern ist, auch wenn er gestern verkündet wurde; er ist immer von heute, weil Christus wirklich gestern, heute und in Ewigkeit ist. Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. So ermutigt uns der hl. Augustinus dazu, uns diesem immer lebendigen Christus anzuvertrauen und so den Weg des Lebens zu finden.“

An Augustinus schätzte er dessen unbedingte Suche nach der Wahrheit, die ihn schließlich zu Christus führte. Mit Augustinus war er überzeugt, dass Glaube und Vernunft sich gegenseitig erhellen. Von Augustinus lernte er, dass theologisches Nachdenken und Gebet ineinander übergehen und auseinander hervorgehen müssen, weshalb die lectio divina unabdingbar ist für alle theologische Erkenntnis. Betonte Joseph Ratzinger doch immer wieder neu, dass die Väter nicht akademisch Theologie trieben, sondern dass ihr theologisches Denken stets eingebettet war in den Gottesdienst der versammelten Gemeinde. Denn ihren Ausgang nahm die Vätertheologie immer bei der Heiligen Schrift, die vor allem im Rahmen der Liturgie ausgelegt wurde unter Berücksichtigung der Regula Fidei. Auf diese Weise war die Kirchlichkeit der Theologie gegeben. Auch die Bedeutung der Kirche und seine eucharistische Ekklesiologie verdankte der Papst dem Studium des heiligen Augustinus. Kirche ist Volk Gottes nur dadurch, „dass es vom Leib Christi und vom Wort Christi lebt und auf solche Weise selbst Leib Christi wird“, wie er in seiner Dissertation ausführte. Augustinus verwies ihn nicht zuletzt auf die Kategorie der Schönheit, die den Menschen anzieht und von innen her umwandelt. Hatte Augustinus in seinem „Handbüchlein zu Glaube, Hoffnung und Liebe“ ein kleines Kompendium der Glaubenslehre vorgelegt, so entsprechen dem im Wirken des Papstes die wegweisenden Enzykliken zu den drei theologischen Tugenden unter den Titeln „Deus caritas est“, „Spe Salvi“ und „Lumen fidei“, die ihresgleichen suchen und eine konzise Einführung ins Christentum bieten.

Von daher war das Zentrum für Augustinus-Forschung in Würzburg für ihn ein wichtiger Ort. Ebenso wichtig jedoch war ihm die persönliche Verbundenheit mit dessen Gründer und langjährigem Leiter Augustinerpater Cornelius Petrus Mayer, der vergangenes Jahr von uns gegangen ist. Papst Benedikt räumte unumwunden ein, regelmäßig das Hauptwerk Mayers zu konsultieren, das große Augustinus-Lexikon. So schrieb er in seiner Glückwunschadresse zum 80. Geburtstag an Pater Cornelius:

Mit Freude gehöre ich zu den Benutzern dieses großartigen Werkes, das ich immer wieder zur Hand nehme und von dem ich immer neu lerne. So kann ich Ihnen in dieser Stunde nur wünschen, dass Sie weiterhin das Erscheinen des Lexikons leiten und damit helfen können, das weitverbreitete Werk des Bischofs von Hippo auch all denen zugänglich zu machen, die nur begrenzten Zugang zu den Quellen selber haben.“

Im Blick auf die immense Bedeutung des heiligen Augustinus für das Denken Joseph Ratzingers war es eine sehr schöne und passende Geste des Bistums Würzburg, ihm zu seinem 85. Geburtstag die Kirchenoper „Augustinus – ein klingendes Mosaik“ zu schenken, die 2012 im Innenhof der päpstlichen Sommerresidenz in Castel Gandolfo in Gegenwart des Papstes aufgeführt wurde.

Die Aufführung einer Oper über den heiligen Augustinus in Castel Gandolfo ist wohl einmalig. Von Herzen danke ich allen, die dieses Ereignis heute Abend ermöglicht haben“, betonte Papst Benedikt damals in seinen Dankensworten.

Kardinal Ratzinger als weihender Bischof in Rom

Nicht vergessen sei, dass zwei unserer Priester ihre Weihe vom damaligen Kardinal Ratzinger empfangen haben. Am 10. Oktober 1989 wurden in der römischen Kirche Sant’Ignazio die beiden Germaniker Stefan-Bernhard Eirich und Matthias Türk zu Priestern geweiht und sind daher in besonderer Weise dem Papa emeritus verbunden.

Die Traueransprache Erzbischof Ratzingers für Bischof Josef Stangl

Mit Bischof Stangl haben wir die Verbindung von Würzburg nach Rom geschlagen. Mit ihm möchte ich meine Überlegungen auch abschließen. Denn nur zwei Jahre nach der Bischofsweihe Ratzingers verstarb Bischof Josef Stangl im Jahre 1979. Die Traueransprache für seinen Würzburger Weihebischof übernahm Joseph Ratzinger als Erzbischof von München und Freising. In seiner Predigt charakterisierte er Bischof Stangl so:

Bischof Stangl war ein Mann ohne Pose und ohne Pathos. Er war auch inmitten einer zerrissenen Zeit und einer vielfach polarisierten Kirche ein Mann ohne Polemik. Er brauchte dies alles nicht, weil seine große Güte Frucht eines tiefen Glaubens und einer tiefen, im Gebet gefundenen Nähe zu Christus war. So war sein Standort ohne Zweideutigkeit.“ 

Beim Lesen dieser Würdigung kommt man kaum umhin, diese Worte auch auf den Prediger selbst zu beziehen. Papst Benedikt XVI. trat auf als Mann ohne Pose. Jedes Pathos war ihm fremd und jeden Kult um seine Person lehnte er ab. Seine Verkündigung entbehrte der Polemik, da sie aus einer tiefen, sich aus dem Gebet nährenden Nähe zu Christus speiste. Er war in der Tat ein Mann ohne Zweideutigkeit. Auf diese Weise vermochte er vielen Menschen Halt und Orientierung zu geben und wurde allenthalben ob seiner Klarheit geschätzt, selbst wenn man seine Position nicht teilte. Im Herrn ruhe er nun aus von all seinen Mühen. Voll Dankbarkeit werden wir seiner gedenken.