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Dokumentation

„Der Tag, der uns mit unseren eigenen Gewalterfahrungen konfrontiert“

Predigt von Bischof Dr. Franz Jung am Karfreitag, 7. April 2023, um 15 Uhr im Würzburger Kiliansdom

Ängste bestimmen unser Leben. Den Ängsten, die uns in den Evangelien von Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi begegnen, möchte ich dieses Jahr nachgehen. Am heutigen Karfreitag begegnen sie uns in drei Formen: Der Angst, sich zu jemanden zu bekennen, der Angst vor der Wahrheit und der Angst vor Gewalt.

Angst davor, einander fremd zu werden

Die Leidensgeschichte Jesu beginnt mit der Verleugnung des Petrus im Palast des Hohepriesters. „Ich kenne diesen Menschen nicht“, sagt Petrus. Dieser Satz markiert eine tiefgehende Entfremdung zweier Menschen. Die äußerliche Distanzierung von Jesus offenbart, wie sehr Petrus sich innerlich von ihm schon entfernt hatte.

Solche Entfremdungsprozesse sind uns nicht unbekannt. Und wir fürchten sie. Menschen werden uns fremd, weil wir Seiten an ihrer Persönlichkeit wahrnehmen, die uns bislang nie aufgefallen waren. Weil ein einschneidendes biographisches Ereignis einen Menschen derart verändert, dass wir ihn nicht wiedererkennen. Weil uns aufgeht, dass das Bild, das wir uns von jemanden gemacht hatten, mit der Wirklichkeit nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen ist. Weil die Hoffnungen nicht in Erfüllung gehen, die wir in ihn und die gemeinsame Geschichte gesetzt hatten. Weil uns ein Konflikt so entzweit, dass es zu einem tiefen Bruch kommt, der scheinbar nicht mehr zu heilen ist. Weil ein anderer uns einfach fallen lässt, wenn wir ihm nicht mehr von Nutzen sind, er uns nicht mehr braucht und sich deshalb selbst verleugnen lässt und uns verleugnet.

Entfremdungsgeschichten sind besonders bitter, wenn der andere hilfsbedürftig ist und der Unterstützung bedürfte – wie Jesus im Evangelium. Wie oft erleben wir, dass Menschen gerade in einer Notlage fallengelassen werden: bei schwerer Krankheit, bei einer ungeplanten Schwangerschaft, bei Behinderung und in einer ökonomischen Notlage.

Die Angst, verleugnet zu werden, sich auseinander zu leben, einander fremd zu werden, die Angst, im Stich gelassen zu werden, begleitet uns ein ganzes Leben. Wie das Beispiel des Petrus zeigt, gilt das auch für unser Glaubensleben. Plötzlich wird uns dieser Jesus unendlich fremd. Plötzlich weiß man gar nicht mehr, warum man diesem Jesus nachfolgen soll, vor allem dann, wenn es um die Nachfolge im Leiden geht.

„Ich kenne diesen Menschen nicht“, sagt Petrus. Jesus aber weiß, was im Menschen ist, wie es im Evangelium heißt (Joh 2,25). Er hatte Petrus den Verrat vorhergesagt, auch wenn der es nicht wahrhaben wollte. Jesus kennt den Menschen und seine Unfähigkeit, wirklich zu lieben. Obwohl er ihn kennt, hält er ihm die Treue. Jesus gibt uns nicht auf. „Wenn wir untreu sind, bleibt er doch treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen“, sagt der Apostel Paulus (2Tim 2,13).

Fremdheitserfahrungen im Leben werden zu unseren persönlichen Karfreitagen. Heute dürfen wir sie zulassen. Heute können wir mit Jesus den Schmerz ermessen, den es bedeutet, einander zu verlieren. Heute sehen wir zugleich auf Jesus, der uns in unserer Not nicht fallen lässt, sondern den Verlorenen in seiner Passion Begleiter sein will.

Angst, für die Wahrheit einzustehen

Die zweite Form der Angst ist die Angst vor der Wahrheit, so wie sie uns in der Figur des Pilatus begegnet. Von Beginn des Prozesses an bleibt dem Statthalter unklar, welche Anklage genau gegen Jesus vorgebracht wird. Kein Zweifel hingegen besteht darüber, dass dieser Mann getötet werden soll. Pilatus erkennt diese Absicht, vermag aber nicht, dieses Ansinnen zu unterbinden. Weil er keinen Schlussstrich zieht und das Schmierentheater beendet, wird er immer tiefer in diesen Fall hineingezogen. Dreimal beteuert er, beim besten Willen keine Schuld zu finden an diesem Jesus.

Aber die Menge spürt, dass ihm die innere Entschiedenheit fehlt. Er steht nicht zu dem, was er eigentlich für wahr hält und was nach seiner Überzeugung das eigentlich Gebotene wäre, nämlich diesen Jesus einfach freizulassen. „Was ist Wahrheit?“, fragt er resigniert, als Jesus ihm entgegenhält, als König Zeuge der Wahrheit zu sein.

Pilatus wird Opfer seiner eigenen Feigheit. Die Menge schüchtert ihn ein und droht damit, ihn beim Kaiser zu verklagen. Er beugt sich dem öffentlichen Druck und fällt schließlich das geforderte Todesurteil. So wird Pilatus zum Handlanger des Bösen. Da hilft am Ende auch keine Händewaschung, um die vermeintliche Unschuld zu bezeugen.

Wie Pilatus geht es manchmal auch uns. Wir trauen uns nicht, für die erkannte Wahrheit einzutreten oder geben vor, die Wahrheit nicht zu kennen. Dadurch gewinnen aber diejenigen die Oberhand, die rücksichtslos ihre bösen Ziele verfolgen. Das lehrt uns der heutige Karfreitag auch. Angst vor der Wahrheit macht unfrei. Jesus hingegen erscheint als freier Mann. Auch wenn man ihn in Fesseln gelegt hat, lässt er sich den Mund nicht verbieten. Aber er ist auch bereit, für die Wahrheit einzustehen mit seinem Leben.

Angst vor Gewalt

Eine letzte Angst am Karfreitag ist die Angst vor Gewalt. Die Passion Jesu ist ein Anschauungsbeispiel dafür, wie eine wehrlose Person zum Opfer beispielloser Gewalt wird. Je mehr Jesus alle Möglichkeiten genommen werden, sich zu verteidigen, desto mehr steigern sich die Übergriffe gegen seine Person.

Zunächst wird Jesus nur geohrfeigt. Und er fragt den Soldaten, der ihn schlägt, was er Unrechtes getan habe. Aber schon diese Frage läuft ins Leere. Denn es geht längst nicht mehr um Recht oder Unrecht. Jesus gilt schon vor dem Ausgang des Prozesses als Übeltäter. Die Soldateska weiß, dass sie freie Hand hat.

Die Dosis der Gewalt wird sukzessive gesteigert. Nach der Ohrfeige folgt als Zugeständnis des Pilatus an die Menge die Geißelung und die Verhöhnung Jesu. Als Spottkönig wird er vorgeführt mit dem roten Mantel und der Dornenkrone. Pilatus meint, mit dieser Form der Demütigung könne er die Menge ruhigstellen. Aber weit gefehlt. Die Mordlust wird mit jeder Gewaltanwendung nur noch gesteigert und endet erst mit der physischen Vernichtung des Opfers durch die Kreuzigung.

Angst vor Gewalt ist alltäglich geworden. Gewalt im Krieg an wehrlosen Gefangenen. Gewalt in der Öffentlichkeit gegen Obdachlose und Geflüchtete. Gewalt an einzelnen wehrlosen Personen, die durch Gruppen gequält und getötet werden. Häusliche Gewalt gegen Kinder, Frauen und alte Menschen. Gewalt in Einrichtungen und Institutionen. Auch der Raum der Kirche war nicht immer der Schutzraum vor sexualisierter Gewalt, wie wir angenommen hatten und es uns gewünscht hätten.

Die Gewalt hat viele Gesichter. Sie begegnet als Mobbing im Alltag. Sie zeigt sich in hasserfüllter Sprache. Im Internet und den Sozialen Netzwerken werden Einzelpersonen oder Gruppen Ziel von Diffamierung und Bloßstellung. All diese Formen psychischer Gewalt bereiten den Weg für tätliche Übergriffe. Denn sie laden förmlich dazu ein, denen Schaden zuzufügen, die man als minderwertig, als Abweichler und als Bösewichte identifiziert hat.

Der Karfreitag ist der Tag, der uns mit unseren eigenen Gewalterfahrungen konfrontiert. Es ist aber auch der Tag, der uns in Erinnerung ruft, wie leicht wir selbst zu Tätern werden durch unbedachtes Sprechen und durch das Abqualifizieren anderer Menschen. Nicht zuletzt erinnert uns der Karfreitag daran, dass man zu Mittätern wird, wenn man gegen Gewalt nicht aufsteht und Unrecht nicht als solches benennt, sei es aus Angst, selbst Opfer von Gewalt zu werden.

Die Johannespassion stellt uns einen Jesus vor, der vor der Gewalt nicht einknickt. Ein Jesus, der für seine Sache kämpft, aber zugleich der Versuchung widersteht, selbst Gewalt anzuwenden. Von ihm gilt heute, am Karfreitag, was wir in der Präfation vom Christkönigsfest singen:

„Als makelloses Lamm und friedenstiftendes Opfer hat er sich dargebracht auf dem Altar des Kreuzes, um das Werk der Erlösung zu vollziehen. Wenn einst die ganze Schöpfung seiner Herrschaft unterworfen ist, wird er dir, seinem Vater, das ewige, alles umfassende Reich übergeben: das Reich der Wahrheit und des Lebens, das Reich der Heiligkeit und der Gnade, das Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens.“

Für dieses Reich lohnt es sich, ohne Angst zu streiten – und ohne Gewalt. Amen.