HILDE DOMIN: Bitte
Wir werden eingetaucht
und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen,
wir werden durchnäßt
bis auf die Herzhaut.
Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht,
der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten,
der Wunsch, verschont zu bleiben,
taugt nicht.
Es taugt die Bitte,
daß bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe.
Daß die Frucht so bunt wie die Blüte sei,
daß noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden.
Und daß wir aus der Flut,
daß wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.
„Wir werden eingetaucht und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen“
Die Sintflut, sagt die Dichterin, ist kein Ereignis aus der Urgeschichte der Menschheit. Sintfluten gibt es noch immer. Keiner bleibt vor ihrer Gewalt verschont.
Sintfluten kommen über die Menschen durch zerstörerische Hochwasser, die Menschen alles nehmen, worauf sie vertrauten: Angehörige, Besitz, ein Zuhause und die Heimat. Wir erfahren sie, wenn wir weggerissen werden von den Folgen eigener oder fremder Schuld, die uns den vertrauten Halt nimmt und uns um Atem ringend auf dem offenen Meer des Lebens zurücklässt. Krieg und Flucht schwemmen Menschen weg wie Sintfluten und reißen sie heraus aus ihrer vertrauten Welt. Eine Lebenskrise oder Sinnkrise kommt über uns wie ein Strudel, der uns hinabzieht. Eine zerbrochene Beziehung gleicht der Sintflut, deren Wogen über uns zusammenschlagen und uns lebendig unter sich begraben.
„wir werden durchnäßt bis auf die Herzhaut“
Eindrucksvoll unterstreicht die Dichterin, wie es sich anfühlt, von der Sintflut gewaschen zu werden. Die Sintfluten des Lebens verbleiben nicht an der Hautoberfläche. Wir werden dabei nicht nur ein wenig nass und können uns schnell wieder trocknen. Nein, das Wasser der Sintfluten, von denen die Dichterin weiß, dringen durch bis zur Herzhaut. Sie erreichen das Innerste des Menschen. Sie rühren ans Zentrum des Lebens und dringen vor bis zu unserer Herzmitte. Man kann sich vor ihnen nicht schützen, weder mit einem Taucheranzug, noch mit einem Rettungsboot. Das Wasser geht durch und durch. Was das bedeutet, erläutert die nächste Strophe. Denn die Dichterin fährt fort:
„Der Wunsch nach der Landschaft diesseits der Tränengrenze taugt nicht, der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten, der Wunsch, verschont zu bleiben, taugt nicht“
Wenn der Wunsch nach der Landschaft diesseits der Tränengrenze nicht taugt, dann heißt das auch, dass mit dem Erreichen der Herzhaut die Tränengrenze überschritten wird. Die Wasser der Sintflut reißen den letzten Damm weg, so dass es kein Halten mehr gibt. Ebenso wenig taugt der Wunsch, die Zeit anzuhalten, der Wunsch, den Frühling noch zurückzuhalten. Denn die Sintflut drängt hin zu neuer Reife und zu einer Endgültigkeit, der wir gerne aus dem Weg gehen. Der Wunsch verschont zu bleiben, taugt nicht. Er zerschellt an der Realität, wenn man sie denn zur Kenntnis nimmt und sich nichts vormacht oder in die Tasche lügt.
An die Stelle von Wünschen treten Bitten. Ein Zeichen dafür, dass der Mensch die Realität akzeptiert. Er verzichtet darauf, sich Dinge zu wünschen, die nie eintreten werden. Statt zu wünschen bleibt nur noch das demütige Bitten.
„Es taugt die Bitte, daß bei Sonnenaufgang die Taube den Zweig vom Ölbaum bringe.“
In Anlehnung an die biblische Sintfluterzählung wünscht sich die Dichterin die Taube mit dem Ölzweig, die damals das Ende der Flut ankündigte. Mit dem Wunsch nach der Taube verbindet sich die Hoffnung, die Sintfluten des Lebens mögen begrenzt sein und nicht für immer anhalten. Es möge einen neuen Sonnenaufgang geben und ein neues Kapitel möge aufgeschlagen werden im Buch des Lebens.
„Daß die Frucht so bunt wie die Blüte sei, daß noch die Blätter der Rose am Boden eine leuchtende Krone bilden.“
Die Dichterin bittet darum, dass die Blüten beim Untertauchen nicht verloren gehen mögen, sondern doch noch Frucht tragen, mindestens ebenso bunt und schön wie die Blüten es verhießen, wenn auch ganz anders. Auch die Blätter der Rose am Boden mögen nach Ablaufen der Wasser eine leuchtende Krone bilden und in einer ungewohnten wie ungeahnten Schönheit erblühen.
Ihr Gedicht beschließt Hilde Domin mit einer Aneinanderreihung biblischer Bilder und einem Paradox. Drei biblische Bilder des Alten Testaments zählt sie auf, Urbilder der Erlösung, die bezeichnenderweise die ersten Christen aufgegriffen hatten. Denn alle drei Motive gehören zum Kernbestand der Katakombenmalerei im frühchristlichen Rom.
Entlassen werden möge der Mensch aus der Sintflut wie Noah aus der Arche, wie Daniel aus der Löwengrube und wie die drei Jünglinge, die zur Strafe in den Feuerofen geworfen worden waren. Noah, Daniel und die drei Jünglinge sind auf wundersame Weise dem sicheren Tod entronnen. Der Rachen des Todes hatte sie schon verschlungen und musste sie dennoch wieder herausgeben. Genauso hofft die Dichterin, den Bedrohungen des Lebens entkommen zu können.
Aber sie fügt paradoxerweise hinzu, sie wünsche, „immer versehrter und immer heiler stets von neuem zu uns selbst entlassen werden“.
Immer versehrter und immer heiler – wie soll das gehen? Immer versehrter, weil uns mit jeder Sintflut-Erfahrung neue Wunden geschlagen werden. Aber immer heiler, weil wir wissen, dass niemand ungeschoren davonkommt. Und weil wir vor allem gelernt haben, immer neu aufzutauchen und die Zuversicht in einen Neuanfang nicht aufgeben. Beides gibt es im Leben immer nur im Doppelpack.
„Bitte“ von Hilde Domin – ein Ostergedicht
Das Gedicht von Hilde Domin spricht mich so an, weil man es auch als Ostergedicht lesen kann. Die Bilder von der Sintflut und vom Eingetaucht werden finden sich in der Tauftheologie der Osternacht wieder. Im Weihegebet über das Taufwasser werden wir gleich hören, dass das Untertauchen in der Sintflut ein Vorbild der künftigen Taufe war. Mit Christus müssen wir untergetaucht werden, damit das Alte vergehe und der Mensch neu erstehe, erläutert Paulus im Römerbrief.
Erlösung, so sagt uns die Osternacht mit der Dichterin, geschieht nicht am Leiden vorbei. Verschont bleibt niemand. Das ist die Wahrheit. Und die Landschaft diesseits der Tränengrenze ist auch uns kein unbekanntes Land. Die Tränen des Herrn haben dieses Land benetzt und geheiligt.
Aber ebenso wahr ist, dass seit dem Sterben des Gottessohnes wir im Leiden nicht allein sind. Er ist hinabgestiegen in die Nacht des Todes, um uns mit sich ins neue Leben aus Gott zu führen. Der Heilige Geist, den wir auf das Taufwasser herabrufen, macht das Wasser zur Quelle neuen Lebens. Über dem Taufwasser schwebt deshalb die Taube mit dem Ölzweig, der uns den Frieden mit Gott durch die Auferstehung Christi verkündet.
Für uns ist Christus deshalb der neue Noah und die Kirche als neue Arche das Rettungsboot zum ewigen Leben. Christus ist für uns auch der neue Daniel, der uns den Löwen entreißt und nicht zulässt, dass der Tod uns verschlingt. Und Christus ist schließlich der geheimnisvolle Gottesbote, der mit den Jünglingen im Feuerofen aushält und sie aus der Feuerhölle herausführt.
Von diesem Christus gilt, was die Dichterin am Ende ihres Gedichtes sagte: er ist versehrt und heil zugleich. Denn der Auferstandene wird immer erkannt an den Wundmalen. Sie leuchten in Ewigkeit, wie wir bei der Bereitung der Osterkerze gehört haben. Sie haben ihre todbringende Kraft verloren. Aber der Mensch bleibt wie der auferstandene Herr vom Leid gezeichnet, selbst wenn ihm die Gnade geschenkt wird, einen Neuanfang im Leben zu wagen.
„Immer versehrter und immer heiler stets von neuem zu UNS selbst entlassen werden“ – so wünschte es sich Hilde Domin. Hier würden wir Christen formulieren: „Immer versehrter und immer heiler stets von neuem zu CHRISTUS entlassen werden“ und erst durch Christus dann zu uns. Denn das neue Leben kann keiner machen. Es bleibt das unverfügbare Geschenk der Gnade an Ostern. Bei unserer Taufe wurden wir in das neue Leben hineingetaucht. Bitten wir darum, auch an diesem Osterfest wieder neu mit Christus auftauchen zu dürfen – immer versehrter und immer heiler zugleich, denn durch seine Wunden sind wir geheilt. Amen.